Wille, J.: ¬Die Textgärtner : Wie bei dem Internet-Lexikon Wikipedia an der Wahrheit gearbeitet wird (2007)
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- "Angela Merkel ist gesperrt. George Bush auch. Aber nur der Junior, nicht der Senior, der in den 90ern US-Präsident war. Der teilt das fragile Schicksal mit "Joseph Martin 'Joschka' Fischer". Auch an Joschka kann jeder ran, der will. Ein Leichtes, aus dem "deutschen Politiker" zum Beispiel einen "deutschen Taxifahrer" oder, was noch falscher wäre, "deutschen Staubsaugervertreter" zu machen. Fischer, früherer Außenminister, Politrentner und US-Gastprofessor, steht völlig ungeschützt im Kosmos des Online-Lexikons Wikipedia. Jeder kann bei ihm Geschichte fälschen. Oder schlicht Unsinn verzapfen. Bei Merkel oder Bush jr. hingegen heißt es: "Der Artikel wurde für nicht angemeldete und neue Benutzer gesperrt, da er regelmäßig und in größerem Umfang von Vandalismus betroffen war." Wikipedia wehrt sich gegen die spontane Spaßguerilla, die sich im Internet austobt. Immerhin das. Arne Klempert bleibt gelassen. "So etwas kommt in einem offenen System eben vor"; sagt der 35-Jährige und meint: kein Grund, am Grundprinzip des Internet-Projekts zu zweifeln, wonach jeder an dem globalen Wissenspool mitschreiben kann. Der hiesige Wikipedia-Repräsentant - Geschäftsführer und einziger Festangestellter des Vereins "Wikimedia Deutschland" - reagiert ruhig, wenn man ihm in seinem spartanisch eingerichteten Frankfurter Büro die Info-GAUs vorhält, die in jüngerer Zeit das Image der "freien" Enzyklopädie beschädigt haben. Er kennt sie natürlich, Manipulationen wie die, als Mitarbeiter des (Noch-)Siemens-Chefs Klaus Kleinfeld dessen Fehler beim Verkauf der Handy-Sparte tilgten und dafür seine Erfolge als Manager feierten. Oder jene, als Bundestagsangestellte kritische Passagen über ihren MdB strichen. Aber das macht Klempert nichtirre an der Sache. Er kann zeigen, wie schnell in fast allen Fällen mutwilliger Unsinn und Fehler von anderen Wiki-Autoren wieder getilgt wurden. "Irgendwann , sagt Klempert, "fliegt jeder auf."
10 000 Texter am Werk "Akl , wie Klempert sich als Wiki-pedia-Benutzer im Internet nennt, hat 2003 als Hobby-Enzyklopädist bei der deutschsprachigen Ausgabe begonnen. Gestartet war das Original des US-Gründers Jimmy Wales 2001. "Ich war begeistert von der Idee und von dem, was von Hobby-Autoren in so kurzer Zeit geleistet worden war." Der frischgebacken Lexikon-Autor, ein Medien-Soziologe mit wechselnden Jobs als Journalist, Öffentlichkeitsarbeiter, PR- und Internet-Fachmann, beschrieb "Das Wunder von Bern", den ,,Heilklima-tischen Kurort" sowie die "Burg Königstein". Grundlegendes über "Heidi Klum", das Phänomen "Seifenoper" und die "Spielbank Bad Homburg" folgten. Wobei Klempert Wert darauf legt, dass man von den Themen nicht voreilig auf persönliche Vorlieben schließt. "Es macht mir Spaß , mich in die Themen reinzuhängen, von denen ich vorher keine Ahnung hatte." Die Wikipedia-Idee, das "Wissen der Welt" zu sammeln, aufbereitet von Freiwilligen, zum freien und damit kostenlosen Gebrauch im Internet veröffentlicht, hat "AM" sofort fasziniert. In der englischsprachigen Wikipedia stehen mittlerweile mehr als 1,8 Millionen Artikel, in der deutschen sind 600 000 erreicht. Quantitativ kann sich die Online-Enzyklopädie mit traditionellen Lexika messen, die mehr als 2000 Euro kosten. Zum Vergleich: Die Londoner Encyclopedia Britannica hat 70 000 Artikel, der Brockhaus 300000 Stichwörter.
Die abfälligen Bemerkungen der Traditionskollegen, etwa von Brockhaus-Sprecher Klaus Holoch, der Wikipedia in Uni-Arbeiten als nicht zitierfähig abkanzelte, kommentiert Klempert mit verblüffenden Worten. "Der Brockhaus ist besser", sagt er trocken. "Zumindest da, wo er besser ist." Das Selbstbewusstsein kommt nicht nur von hohen Nutzerzahlen: Wikipedia liegt weltweit in den Top Ten der meistgenutzten Websites, in Deutschland sogar meist in den Top Five. Das Wissenschaftsmagazin Nature ließ im vergangenen Jahr 42 Fachartikel aus Wikipedia mit denen aus der ehrwürdigen Britannica vergleichen. Dabei schnitten beide Lexika praktisch gleich gut ab. Bei der Britannica fanden die Experten drei Fehler pro Artikel, bei Wikipedia, vier. Zweifel, ob die Wiki-Welt funktioniert, sind in der Wiki-Szene seither noch geringer geworden. Das mag daran liegen, dass trotz des offenen Prinzips - jeder kann mitschreiben und umschreibendie Zahl der Mitarbeiter halbwegs überschaubar ist. Bei der deutschen Ausgabe texten rund 10 000 regelmäßig mit, davon sind etwa ein Zehntel Hauptautoren, die pro Monat mindestens 1000 Bearbeitungen schaffen. Pro Tag werden etwa 1000 neue Artikel ins Netz gestellt. Die Hälfte davon bleibt drin, die andere fliegt, nach einer Art Abstimmung unter den Wiki-Nutzern, wegen Nichtigkeit wieder raus. Gut 250 "Administratoren" aus der Gruppe der Vielschreiber moderieren den Prozess und überwachen "ihre" Themenfelder.
Klempert, der Administrator war, bevor sein Fulltime-Job bei Wikimedia als Organisator, Fundraiser und PR-Mann ihm die Zeit dafür raubte, nennt sie "Textgärtner". Was diese Online-Grünpfleger so machen? Klempert zitiert Spiegel-Autor Manfred Dworschak, der dafür die liebevolle Beschreibung fand: "Sie stutzen Wildwuchs, bringen Gliederungen in Form und jäten vor dem Schlafengehen noch schnell ein paar unsinnige Apostrophe." Klingt harmlos, aber tatsächlich lastet auf den Administratoren große Verantwortung. Sie müssen nicht nur eingreifen, wenn "Vandalen" die Lexikoneinträge unbrauchbar machen. Wie voriges Jahr, als Schüler in der Mit-tagspause auf die Idee kamen, vom Schul-PC aus 50 Artikel mit dem Zusatz "Unser Lehrer ist doof" u versehen. Oder als ein Journalist testhalber 17 Fehler in Texte hineinschmuggelte, um zu verfolgen, wie lange es dauert, bis sie korrigiert würden. "Wenn so was passiert, wird die IP-Adresse des Computer-Netzwerks gesperrt, von dem aus das gemacht wurde`; sagt Klempert. Das klappt nicht so einfach bei Privat-Computern, die über einen Provider ins Netz gehen und bei jeder Einwahl eine neue IP-Adresse (IP wie "Internet Protocol") zugeteilt bekommen. "Vandalen, die zu Hause zuschlagen, verlieren aber meist schnell die Lust, wenn sie gleich wieder gesperrt werden." Ein anderer "Selbstreinigungsmodus" (Klempert) greift beim "Edit-War`; beim Krieg der Autoren. Wurde ein Text von WikiSchreibern mehrfach hin und her geändert, sperrt der Administrator die betreffende Seite erst einmal. Die Kontrahenten müssen sich auf einer Diskussionsseite einigen, die zu jedem Wikipedia-Eintrag existiert. Erst dann wird der Lexikon-Beitrag wieder geöffnet. In dem Link "Autoren/Versionen" oben auf jeder Wiki-Seite lässt sich die Entstehungsgeschichte jedes Artikels nachvollziehen. "Automatisch werden hier die IPAdressen gespeichert`, sagt Klempert. So sind auch die Eingriffe bei den Texten über die Bundestagsabgeordneten aufgeflogen.