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  • × author_ss:"Mulsow, M."
  1. Mulsow, M.: Jede, Autor seine Maske : Die Bibliothek als Theater: Vincentius Placcius erfindet 1708 das Karteikastensystem (2002) 0.01
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    Content
    ""Larvatus prodeo": Mit diesen Worten erklärt Descartes 1619 gegenüber Beeckmann, er wolle seinen Untersuchungen nur versteckt und hinter einer Maske nachgehen. Simulation und Dissimulation waren in dieser Zeit fast unabdingbare Tugenden für denjenigen, der innovativ und jenseits der gängigen Pfade forschen und veröffentlichen wollte. Um so mehr, wurde es allerdings im Verlauf des siebzehnten Jahrhunderts zu einer Dringlichkeit für die "Historia litteraria", für die Orientierung in den Wissensbeständen also, den Autoren ihre Larven abzunehmen: zumindest post festum, nach dem Abflauen der jeweiligen stürmischen Kontroversen, die ihre Schriften ausgelöst hatten. Man empfand die Masse der nicht zuschreibbaren Titel als ein "Chaos", einen "Orcus", der zu bändigen sei. Diesem Bedarf kam schließlich 1708 der Hamburger Vincentius Placcius nach, mit dem ersten umfassenden Lexikon in dieser Sache, dem monumentalen "Theatrum anonymorum et pseudonymorum". Placcius ist auch der erste gewesen, der die Technik des Karteikastenschrankes publik gemacht hat; er kannte sich also aus mit der Bändigung von Wissen. Helmut Zedelmaier hat jüngst an Placcius erinnert, der als Schüler des Naturwissenschaftlers Joachim Jungius eine "Ars Excerpendi" geschrieben und darin die Entwürfe seines Lehrers veröffentlicht hat (Helmut Zedelmaier, "De ratione excerpendi: Daniel Georg Morhof und das Exzerpieren", in Francoise Waquet, Hrsg., Mapping the World of Learning: The "Polyhistor" of Daniel Georg Morhof, Wiesbaden 2000). Nach Zedelmaier war das Besondere an der von Jungius und Placcius verwendeten Methode, daß sie provisorisch war. Nicht mehr in Bücher mit festgefügten thematischen "Loci" schrieb man jetzt, sondern auf Zettel, die mit einer Halteklammer an metallene Registerkarten geheftet wurden. So konnten die Zettel nach Belieben umsortiert werden, wenn sich neue Bezüge für sie ergaben. Ein solches provisorisches Ordnen mag auch beim Aufspüren von larvierten Autoren geholfen haben. Der gelehrte Detektiv, der sich an ihre Fersen heftete, hatte immer neue Indizien zu kombinieren, bis sich das Rätsel um die Identität des Verfassers lüftete. Was heute die Recherche im Internet leistet, war damals noch Handarbeit. Anonymen- und Pseudonymenkataloge anzulegen ist im späten siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhundert fast zum Modephänomen unter wohlhabenden Gelehrtenavanciert. Wohlhabend: weil zu dieser Tätigkeit eine große Privatbibliothek gehörte, die sich nur mit beträchtlichen finanziellen Mitteln aufbauen ließ, zumal wenn sie seltene Texte oder gar Manuskripte enthalten sollte. Placcius' Buch ist ein Titelkupfer vorangestellt, auf dem ein Gelehrter in seiner detektivischen Tätigkeit mehreren Autoren die Masken vom Gesicht nimmt, so daß ihr wahres Antlitz sichtbar wird. Über der Szenerie hängen bereits eine ganze Reihe von Masken, die von erbrachten Sherlock-Holmes-Leistungen zeugen. Das "Theater", in dem sich diese Demaskierung vollzieht, ist natürlich die Gelehrtenbibliothek, und zwar eine Bibliothek hinter jener Bühne, auf der die larvierten Autoren aufgetreten sind. Im Hintergrund sind ein Merkur und eine Minerva sichtbar, Zeichen der Verbindung von Rhetorik und Vernunft in den Artes, und im tiefsten Hintergrund scheint die ephesinische Artemis auf, die Göttin der Natur, als letzter Referenzpunkt aller Künste. "Jedem das Seine" (suum cuique) steht als Motto über der Darstellung.
    Damit ist offenbar gemeint, daß jeder Autor sein wahres Gesicht zurückerhält, daß nicht mehr die fremde, sondern die eigene Autorität und Person gefragt ist. Präziser ist auf Cicero angespielt, der in "De officiis" von den Rollen spricht, die zu verkörpern uns die Natur aufgegeben habe, und die Regel ausgibt: Bleibe bei dem, was dir eigentümlich ist, nimm nicht andere Charaktere an, sondern sei unverstellt du selbst. Bei dem "suum cuique" ist deshalb "persona" zu ergänzen, so wie auf einer florentinischen Tafel aus dem sechzehnten Jahrhundert: "sua cuique persona". Placcius' Lexikon schafft demnach die von den Autoren künstlich hergestellte Differenz zu sich selbst aus der Welt und bringt Autor und Person wieder zur Deckung. Damit ist freilich ein gesellschaftliches, ja wissenssoziologisches Problem - das der Dissimulation - auf eine einfache moralische Devise zur Authentizität reduziert. Man ist deshalb versucht - um der Reduktion entgegenzusteuern -, das Bild und das Motto andersherum zu lesen, sicherlich gegen die intendierte Verlaufsrichtung des Stechers. Der Gelehrte im Vordergrund erscheint dann als jemand, der Masken verteilt, "personae" vergibt, und zwar "jedem die seine". Diese Blickrichtung wäre diejenige der Autoren selbst, die in der Absicht, sich zu larvieren, eine Wahl treffen müssen, welche "persona" sie annehmen Wollen, durch welche Maske sie zu sprechen gedenken. Der "Ineptus religiosus", ein anonymer Text aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, empfiehlt denn auch ganz ohne Scham: "Halte besonders diejenigen für auserlesene Bücher, welche ohne Namen des Verfassers herauskommen und auch keinen Ort des Drucks angeben." Die Leine voll Masken, die über der Bibliothek gespannt ist, bezeichnet dann die pluralisierte Situation der frühen Neuzeit mit ihrer Vielfalt von wählbaren Traditionen, und der Gelehrte ist nun ein - freilich subversiver - Requisiteur, der aus seiner Kenntnis der Wissens- und Traditionsvorräte heraus den Autoren bei der Suche nach der passenden Rolle hilft. Der dissimulierende Autor ist dabei notwendig ein Eklektiker geworden, denn bei einer Pluralisierung von Autoritäten hilft nur die connaisseurhafte Auswahl, wenn man auf der Bühne der Öffentlichkeit, die im Hintergrund sichtbar wird" Erfolg haben will. Es ist dieser Blick aus der Autorenrichtung, aus der Richtung der "invention of traditions", den die Besinnung auf die Vervielfältigung der Pseudonyme in der frühen Neuzeit und die Versuche, ihnen mit Zettelkästen beizukommen, lehrten. Denn jenseits des Polizeiblicks auf die Karteien von Verdächtigen, von Schwindlern und Betrügern gab es tatsächlich in der Frühaufklärung eine literargeschichtliche Beschäftigung mit anonymen Werken. In gleichsam subversiver Verwendung der Gelehrsamkeit ä la Placcius stellte man sich eine "Bibliotheca Vulcani" zusammen, nämlich Notizen über verbotene und verbrannte Bücher. Es waren Schriften, die "dem Vulcan geopfert" worden waren, die gleich Märtyrern den Feuertod erlitten hatten. Diese Zettelsammlung konnte dann als Archiv für neue radikale "Schandtaten" dienen. Sie stiftete zur Intertextualität an: Werke des philosophischen Untergrundes um 1700 tragen oft fiktive Verfasser- oder Druckernamen, die den Text in die Tradition etwa von Spinoza, der politischen Widerstandsliteratur oder dem Renaissancenaturalismus stellen. Je nach Wahl der Maske, die man auf der langen Leine des Zettelkastens zur Ansicht hatte."