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  • × author_ss:"Merkel, G."
  1. Roth, G.; Merkel, G.: Haltet den Richter! : Schuld und Strafe (2010) 0.01
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    Content
    "Man weiß nicht, worüber man sich bei der Lektüre des Artikels von Winfried Hassemer mehr wundern soll: über die Unbefangenheit des offensiven Tons oder über die Problematik der Argumente. Ersteres erstaunt angesichts der verantwortungsvollen Ämter, die Hassemer als Strafrechtslehrer und Verfassungsrichter lange Jahre innehatte. Letzteres gilt zunächst für den Vorwurf des "Kategorienfehlers". Hierbei handelt es sich klassischerweise um die logisch unzulässige oder sinnlose Anwendung von Begriffen aus einer Kategorie auf eine andere, (z.B. wenn man sagt, der Ball "fürchte" den Aufprall auf die Wand). Dass bei den Aussagen von Neurowissenschaftlern, Psychologen und Philosophen (von Hassemer merkwürdigerweise "Humanbiologen" genannt) über die Existenz oder Nichtexistenz von Willensfreiheit und Schuldfähigkeit ein solcher Kategorienfehler vorliegt, ist mehr als fraglich, denn diese Wissenschaftler befassen sich typischerweise, wenn auch aus unterschiedlichen Richtungen, nun einmal auch mit Fragen, die die Legitimation des strafrechtlichen Schuldprinzips betreffen. Hierzu gehört vor allem die Frage, ob es irgendeine empirische Evidenz dafür gibt, dass Menschen unter identischen physisch-psychischen Bedingungen einen anderen handlungswirksamen Willen hätten bilden können. Dass ein solcher "Alternativismus" dem geltenden Strafrecht zugrunde liegt, folgt aus Paragraph 20 des Strafgesetzbuches (StGB), der die Schuldunfähigkeit wegen geistiger Störungen regelt. Danach handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der Tat aufgrund einer geistigen Störung nicht fähig war, sich rechtmäßig zu verhalten. Diejenigen Täter, die keine entsprechende Störung aufweisen, also schuldfähig sind, hätten sich demnach rechtmäßig verhalten und ihre Tat vermeiden können.
    Dieser Paragraph belegt deshalb im Umkehrschluss, dass das Strafrecht für die Schuldfähigkeit die Möglichkeit zum Andershandelnkönnen in der konkreten Tatsituation und damit Willensfreiheit in einem "starken" Sinne voraussetzt. Im Gegensatz zu vielen Strafrechtstheoretikern, die für den Schuldvorwurf weniger verlangen, hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach klargestellt, dass nur ein strafrechtlicher Vorwurf im Sinne eines begründeten ethischen Vorwurfs den Vergeltungszweck der Strafe legitimieren könne: "Andernfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat." Dass der Täter auch einen anderen handlungswirksamen Willen hätte bilden können, dafür hat aber bisher keine Wissenschaft irgendeinen empirischen Beweis, ja auch nur ein plausibles Indiz liefern können. Selbst Immanuel Kant, einer der geistigen Väter der Idee eines freien Willens, hat nachdrücklich betont, dass der Alternativismus bzw. eine "von selbst beginnende Kausalkette" empirisch niemals festzustellen sei. Daraus ergibt sich, dass das geltende Strafrecht auf einem Konzept ohne empirisches Fundament beruht. Artikel 6 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention fordert aber den positiven Nachweis der Schuld, nicht etwa umgekehrt nur der Schuldunfähigkeit, wie es § 20 StGB tut. Daran offenbart sich ein Legitimationsdefizit des Strafrechts. Das ist aber ganz offensichtlich keine Erkenntnis der Neurowissenschaften, sondern Folge einer metaphysischen Freiheitsannahme, die mit dem heutigen Verständnis von Objektivität und Überprüfbarkeit des Strafrechts kaum mehr vereinbar erscheint. Die Neurowissenschaften knüpfen genau dort an, wo die Hirnforschung schon seit langem von den Strafrichtern zu Rate gezogen wird: Bei psychischen Defekten von Tätern, wie sie von den §§ 20 und 21 StGB vorausgesetzt werden. Gerade die Tatsache, dass viele Straftäter zwar über Einsichtsfähigkeit verfügen, ihr Handeln aber aus hirnorganischen oder psychischen Gründen nicht daran ausrichten, hat die psychologische und neurowissenschaftliche Forschung der letzten Jahre intensiv beschäftigt. Die Forschung hier zurückzuweisen, hieße an einen 200 Jahre zurückliegenden Zustand anzuknüpfen, als Strafrichter noch allein und ohne sachverständigen Rat über das Vorliegen eines geistigen Defekts befanden.
    Es ist aus heutiger Sicht bei der Schuldfrage wie auch sonst im Strafrecht aber inakzeptabel, nach Belieben mit der Empirie umzugehen (forensische Psychiater können bei ihrer gutachterlichen Tätigkeit ein Lied davon singen!) und sich, wenn sie der richterlichen Intuition widerspricht, auf die normative "Entscheidungshoheit" zurückzuziehen. Das, worüber entschieden wird, muss auch wissenschaftlich konsensfähig sein, um gesellschaftliche Akzeptanz zu finden. Was also meint Hassemer, wenn er von einem Kategorienfehler spricht? Er ist der Auffassung, aus den empirischen Erkenntnissen der Hirnforschung würden unzulässigerweise Schlüsse für die normativen Bedingungen des Strafrechts abgeleitet. Natürlich können die Erkenntnisse der Neurowissenschaft nicht die Grenzen strafrechtlicher Zurechnung ziehen; das ist trivial. Aber sie können die sachlichen Gründe dieser Grenzziehung dort untersuchen, wo die Tür für die empirische Forschung schon einmal offen steht. Findet die Forschung also Hirnaktivitäten, die sich geistig-psychischen Erkrankungen im Sinne der §§ 20 und 21 StGB zuordnen lassen, so sind diese Erkenntnisse natürlich mit Blick auf das Willkürverbot (Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes) und den Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" zu berücksichtigen. Auch die frühe Prägung des Gehirns durch soziale Interaktion besagt aus der Retrospektive etwas über kausale Zusammenhänge. Deren Ausblenden seitens des Strafrechts erscheint höchst unangemessen und ist wegen Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes jedenfalls begründungspflichtig. Das alles folgt unmittelbar aus dem Recht, insbesondere dem Verfassungsrecht, und allenfalls mittelbar aus den Erkenntnissen der Neurowissenschaft. Im Übrigen manifestiert sich der Grundsatz der Menschenwürde auch nicht, wie Hassemer behauptet, im Prinzip der (strafrechtlichen) Zurechnung. Artikel 1 des Grundgesetzes steht seit seinem Inkrafttreten 1949 vielmehr in einem rechtlichen Spannungsverhältnis zum wesentlich älteren Schuldprinzip.
    Zum einen haben selbstverständlich auch und gerade psychisch schwer beeinträchtigte, also gänzlich schuldunfähige Menschen eine Menschenwürde, die es zu achten gilt - ganz unabhängig davon, ob ihnen Handlungsfolgen zugerechnet werden oder nicht. Qualitative Unterschiede hinsichtlich der Würde eines schuldhaft und eines schuldlos Handelnden verbietet die Verfassung. Zum anderen ist der Schuldgrundsatz auch mit der Möglichkeit der nachträglichen Sicherungsverwahrung von Straftätern nach Verbüßung ihrer Strafe nicht vereinbar. Gänzlich unschlüssig wird deshalb die Argumentation Hassemers, wenn man bedenkt, dass er im Jahre 2004 als Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts den Wegfall der Befristung für das in seinen Worten "trostlose" und "unfreundlichere" Maßregelrecht (sogar rückwirkend) bestätigt hat - eben in jener Entscheidung, der nun der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Nachdruck widersprochen hat. "Die Menschenwürde wird auch durch eine lang dauernde Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht verletzt", heißt es in der Entscheidung des Zweiten Senats. Das widerspricht aber ersichtlich Hassemers Annahme, nur durch das Schuldprinzip werde die Würde eines Menschen geachtet. Zwar spricht viel dafür, Straftäter nicht durchgängig zu exkulpieren und sie damit einer womöglich ungehemmt "vorsorgenden" Staatsgewalt auszuliefern. Freilich hat sich diese Gefahr im Schatten des Strafrechts mit den dramatisch angestiegenen Zahlen des Maßregelvollzugs längst verwirklicht. Unter dem Primat der Willensfreiheit scheint es Menschenwürde nur als Würde erster und zweiter Klasse zu geben.
    Verantwortlichkeit setzt dagegen - im Strafrecht wie überall im Recht - Handlungsfreiheit, d.h. die Abwesenheit äußeren Zwangs, voraus und daneben die Fähigkeit, Bedeutung und Tragweite seiner Erklärungen und sonstigen Handlungen zu verstehen (Geschäftsfähigkeit, Einwilligungsfähigkeit etc.). Der befremdlichste Irrtum Hassemers liegt deshalb in der Annahme, Verantwortlichkeit und Zurechnung von Ereignissen seien notwendig mit Willensfreiheit und Schuld im strafrechtlichen Sinne verbunden. Immerhin differenziert das Zivilrecht zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Handeln, ohne dabei einen ethischen Schuldvorwurf zu erheben. Es ist daher auch schwer verständlich, warum wir uns wie "Maschinen" behandeln müssten, wenn wir auf den moralisch aufgeladenen Schuldvorwurf und den entsprechend herabsetzenden Umgang mit Delinquenten verzichteten. Beiläufig: Wer hat denn überhaupt jemals behauptet, Menschen könnten wegen der neueren Erkenntnisse der Neurowissenschaften nicht verantwortlich gemacht werden? Der Rachegedanke mag tief verwurzelt sein in der Gesellschaft. Dass etwas seit langer Zeit von der Mehrheit der Bevölkerung in bestimmter Weise gesehen und empfunden wird, darf jedoch nicht zur alleinigen Begründung von Normen herangezogen werden. Immerhin wurden Formen der Selbstjustiz wie die Fehde oder die Blutrache durch das staatliche Gewaltmonopol verdrängt, ein zweifelsfreier zivilisatorischer Fortschritt, den jahrhundertelang kaum jemand für möglich gehalten hätte. Die von Hassemer vermisste Alternative zum Strafrecht könnte ein öffentliches Recht sein, das auch weiterhin begangenes Unrecht sanktioniert. Innerhalb eines durch das Tatunrecht und das verfassungsrechtliche Gebot des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit begrenzten Vollzugsrahmens wären aber in einem weit größerem Umfang Behandlungsangebote notwendig: Weil sie auf die Auseinandersetzung des Täters mit der Tat abzielen, dadurch Straftaten verhindern helfen und ein milderes Mittel der Sanktion sein können. Es ließe sich dadurch der Vollzug insgesamt begrenzen, und man käme der Resozialisierung als dem "herausragenden Ziel" des Strafvollzugs näher. Dabei ist freilich zuzugeben, dass verhaltensändernde Maßnahmen bisher nur in geringem Maße erprobt sind, weil sich das Strafrecht für die Persönlichkeit der Täter lange Zeit nicht interessiert hat. Nur mit frühzeitigen Hilfsangeboten scheint uns allerdings ein effektiver Schutz von Opfern und Tätern gleichermaßen möglich."
    Footnote
    Erwiderung auf: Hassemer, W.: Haltet den geborenen Dieb! In:FAZ vom 15.06.2010. Vgl. die Erwiderung: Walter, M.: Unzulässige Überinterpretation: Schuld und Strafe. In: Frankfurter Rundschau. Nr.xxx vom 05.07.2010, S.xx. Vgl. auch: Janich, P.: Stillschweigende Hirngespinste: Die FR-Debatte zur Willensfreiheit. In: Frankfurter Rundschau. Nr.158 vom 12.07.2010, S.20-21. Lüderssen, K.: Wer determiniert die Hirnforscher?: Was ist Willensfreiheit (4). [Interview]. In: Frankfurter Rundschau. Nr.164 vom 19.07.2010, S.20-21. Pauen, M.: Das Schuldprinzip antasten, ohne es abzuschaffen: Was ist Willensfreiheit (5) oder: Wer ist verantwortlich für die Abschaffung von Verantwortung?. In: Frankfurter Rundschau. Nr.170 vom 26.07.2010, S.22-23. Vgl.: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/themen/?em_cnt=2788472&em_loc=3643.