Hanuschek, S.: Gottes sinnlicher Maschinist : Uwe Schultz' Biografie des Philosophen und Langschläfers René Descartes (2001)
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- "Nehmen wir z. B. dieses Wachs. Es ist erst vor kurzem aus dem Honigkuchen ausgeschmolzen worden; es hat noch nicht allen Honiggeschmack verloren und hat noch etwas von dem Geruch der Blumen, aus denen es gesogen worden. Seine Farbe, Gestalt, Größe ist offenbar." So sinnlieh, so konkret hat René Descartes vor 360 Jahren in den Meditationen (1641) nachgedacht, als Naturwissenschaften und Philosophie noch nicht getrennt waren. Es geht hier um die Frage, was wohl einen Körper ausmacht. Die kleine Pointe ist natürlich, dass sich der "Körper" Wachs verändert, wenn er in die Nähe einer Flamme kommt. Die Forscher von Renaissance bis Barock haben oft diesen sinnlichen Reiz, sie bereiten ihre Wahrnehmungen nachvollziehbar auf, wir erleben all die Galilei, Spinoza, Pascal, wie sie mit ihren Messanordnungen, Kugelwürfen, Quecksilberröhreben, selbstgeschliffenen Linsen herumtanzen, auf Türme und Berge steigen, aufgeregt ein neues und grundsätzlicheres Gesetz nach dem andern zutage fördernd.
Von Descartes speziell wissen wir, dass er ein großer Schläfer vor dem Herrn war, stolz auf seine zehn Stunden Bettruhe am Tag, der vor dem Aufstehen um elf gern nachgedacht hat. Von etwas schwächlicher Konstitution, hielt er sich gern im Wintermantel in überheizten Räumen am Kamin auf, die meiste Zeit seines Lebens in den Niederlanden. Der Mann war 30 seiner 54 Lebensjahre von Krieg umgeben, ein unabhängiger katholischer Adliger in einer für den Einzelnen kaum durchdringliehen Zeit von Religionskriegen und Inquisition. Gegen die Verwirrnis suchte Descartes nach einer neuen Gewissheit im Discours de la Methode (1637), eine Scheinautobiografie, die zeigen sollte, wie man sich mit dem Verstand einen Weg durchs Chaos bahnen kann: Philosophie als undogmatische, durch Introspektion nachvollziehbare Lebenshilfe, nicht als Weltflucht. Uwe Schultz hat seine frankophile Renaissance-Begeisterung schon einige Male niedergeschrieben, vorzugsweise über Montaigne. Nun hat er eine voluminöse Descartes-Biografie vorgelegt, die über große Strecken eine reine Werkbiografie ist. Schultz berichtet ein paar sozialgeschichtliche Zusammenhänge - Reisen im frühen 17. Jahrhundert, die Finanzen von Adligen -, die wenigen biografischen Details, die über Descartes bekannt oder erschließbar sind, die Freundschaften des Philosophen. Gelegentlich gibt es nichts zu berichten - da erzählt Schultz Pariser Hofintrigen, von denen "sich Descartes offensichtlich fern" hielt, und zieht manchen trivialen psychologischen Schluss. Immerhin hat er eine veritable Intrige mit Mord und gefährlichen Liebschaften zu bieten, in die die Pfalzgräfin Elisabeth verwickelt war, eine Freundin Descartes'. Nun ist die Quellenlage bei Lebensläufen vor 1800 ein eigen Ding, aber Schultz hat sich für ein Buch dieses Umfangs auch einiges entgehen lassen, etwa den Kometenstreit oder den manifesten RosenkreutzerEinfluss auf Descartes' berühmte Erweckungs-Träume. Und er hat es fertig gebracht, ein Buch über den Schöpfer der ersten allgemeinen und bewussten Methode ohne eine einzige Bemerkung zur eigenen Methode, zu Einschränkungen und Lücken zu verfassen.
Sein Descartes ist eine reine Literaturarbeit, er hat keine Archivfunde gemacht, auch zum Umfeld des Dreißigjährigen Kriegs kaum Historiker herangezogen, die jünger sind als Leopold von Ranke oder Veronica Wedgwood. Die Chance zur Synthese oder Popularisierung des jüngsten Forschungsstandes hat er nicht genutzt. Schultz hat ein Faible für ältere französische Philosophie, und die stärkste Qualität seines Buchs liegt in der Vermittlung von Descartes' philosophischen wie naturwissenschaftlichen Schriften. Schultz ist ein leicht lesbarer Mittler zwischen deutscher und französischer Kultur. Das Genre des Wissenschaftskrimis erfüllt sein Buch, obendrein ist es schön gesetzt und mit einigen von Descartes' eigenen Zeichnungen illustriert. Eine Frage hätte man aber doch gern in so einem dicken Buch beantwortet bekommen: Warum sollen wir Descartes 350 Jahre nach seinem Tod noch lesen? Ist mehr drin als ein nettes eskapistisches Leseabenteuer über die Zeit, als das Nachdenken noch geholfen hat und die Zweifel am Cartesianismus noch nicht so laut waren? Schultz wirft in Einleitung und Schlusssatz ein paar Brocken über den größten Philosophen am Beginn der Neuzeit" hin: Nachdem Descartes nicht ausschloss, dass ,dieses ganze über Gott bloß erdichtet ist", konstatiert Schultz hier einen frühen Tod Gottes". Descartes habe den "Weg in die Technik für Jahrhunderte" vorgezeichnet; gewissermaßen als Maschinist Gottes habe er Pflanzen, Tiere und den menschlichen Körper zu Maschinen gemacht, sie "der Überprüfbarkeit, der Kontrolle und Reparaturfähigkeit" unterworfen; seit Descartes gebe es die Spaltung in die ihrer stets sicheren Naturwissenschaften und die stets neu beginnenden Geisteswissenschaften". Leider substantiiert Schultz diese Punkte in der Darstellung selbst kaum. Descartes' Werk gilt als Beginn der philosophischen Neuzeit, auch er selbst hat sich so gesehen.
Der Anspruch, die Wissenschaft zu erneuern, war geradezu ein Topos seiner Zeit, der auch bei Galilei und Bacon auftaucht. Uneingeschränkt ist bis heute Descartes' Bedeutung für Mathematik (Koordinatengeometrie) und Optik (Gesetz der Lichtbrechung). Weitere seiner Forschungsgebiete sind nur als Wissenschaftsgeschichte interessant, am prominentesten vielleicht seine anatomischen Vorstellungen, die in seiner Zeit revolutionär waren, aber nicht immer zutreffend Descartes war den Automaten des Barocks allzu sehr zugetan. Dem Rationalisten und Zweifler haben wir die weitgehende Entmachtung von Kirehe und Theologie zu verdanken - nicht der Religion. Der gläubige Jesuitenzögling machte deutlich, dass die kirchlichen Institutionen Meinungen vertraten, kein unfehlbares Wissen. Diesen Aspekt beschreibt Schultz eingehend, dagegen bringt er die Folgen des Discours nie auf den Punkt: Descartes hat hier begründet, was wir heute unter philosophischer Reflexion verstehen, das Nachdenken über die Möglichkeiten menschlichen Erkennens überhaupt. Er hat klar benannt, dass Erkenntnis nicht durch das limitiert ist, was sie erkennen will, sondern zuerst durch ihre eigenen Grenzen. Und wir haben Descartes die Einsicht zu verdanken, dass zwischen Materiellem und Geistigem ein Unterschied besteht das viel bearbeitete Leib-Seele-Problem. Seine Lösungen haben wir verworfen, die Vorstellung der Seele in der Zirbeldrüse wirkt eher amüsant. Eine wirklich befriedigende neue Lösung aber haben wir auch nicht gefunden. Am dichtesten daran scheint heute die Neurobiologie zu sein. Auch sie ist Schultz kein Wort wert. Es bleibt dabei: Ein gut leserliches Buch, aber eine vertane Chance."