Document (#36612)

Author
Herwig, O.
Title
¬Die Arche mit dem Leck : Ein Abgesang auf die Institution Bibliothek
Source
Frankfurter Rundschau. Nr.166 vom 20.7.2011, S.26
Year
2011
Abstract
Das Internet verändert alles. Erst traf es Enzyklopädien, die unter dem Ansturm von Wikipedia verschwanden, dann folgten normale Bücher, aufgesaugt von digitalen Plattformen und dem iPad. Ein Abgesang auf die Institution Bibliothek.
Content
"Von "Peak Oil" muss kein Autofahrer gehört haben, er spürt dessen Bedrohung, wenn er an der Zapfsäule über steigende Preise flucht und ahnt, dass wir am Gipfel des fossilen Zeitalters stehen. Bald könnte der Schreckensruf "Peak Book" unter Bibliophilen erschallen. Denn womöglich überschreiten wir gerade den Höhepunkt der traditionellen Buchkultur. Das Internet verändert alles. Erst traf es Enzyklopädien, die unter dem Ansturm von Wikipedia verschwanden, dann folgten normale Bücher, aufgesaugt von digitalen Plattformen und dem iPad. Nun könnten ganze Bibliotheken folgen, die Gedächtnisse unserer Zivilisation. Das jedenfalls insinuiert die seltsam melancholische Ausstellung "Die Weisheit baut sich ein Haus. Architektur und Geschichte von Bibliotheken" in der Pinakothek der Moderne. Mit einer Phalanx von Folianten, Plänen, Modellen, Fotos und Filmen stimmt das Architekturmuseum der Technischen Universität München einen Abgesang an auf die Welt der Büchereien, der Ausleihschalter und Kataloge. Die Bibliothek als Arche, dahinter steht die Angst, im Mahlstrom des Netzes unterzugehen, das erst alles Wissen verschlingt und später in wohl dosierten Bits und Bytes kommerziell verwertet.
Zwischen Wissensspeicher Bibliothek und Geldspeicher Suchmaschine liegt freilich mehr als ein Knopfdruck. Die kluge Schau eröffnet zunächst ein Panorama der Ideen-Geschichte. Vom digitalen Epochenschnitt geht der Blick zurück zur historischen "Strukturierung und architektonischen Verfestigung des Wissens". Bezeichnenderweise fragt die Ausstellung an dieser Stelle weniger nach der Korrespondenz von Herrschaft und Wissensmonopol, sondern allgemein, wie gesellschaftlicher Fortschritt und gesellschaftliche Wissenskonservierung voranschreiten. Bibliotheken sind zweifellos der Versuch, die chaotische Welt zu ordnen und ihr ein anderes, ein aufklärerisches Antlitz zu verleihen. In der Systematik der Kataloge, die wiederum ein Abbild der jeweiligen Hierarchie des Wissens bilden, wird aus dem zerstreuten Einzeltitel ein kultureller Baustein. Vielleicht 70000 Bände umfasste die Bibliothek von Alexandria. Sie avancierte zum Symbol der allumfassenden, absoluten Sammlung, nur dass sich bezeichnenderweise kein Überrest und auch kein Bild von ihr erhalten hat, nur eine dürre Beschreibung bei Strabo. Ihr Untergang wirft ein bezeichnendes Licht auf die weiteren Bemühungen, den Wissensbergen Herr zu werden, die nach dem Ende der antiken Bibliotheken in mönchischen Schreibstuben zunächst konserviert werden, um mit der Renaissance erneut zu wachsen.
Nach Jahrhunderten kultureller Sammelwut entsteht in der Frühen Neuzeit ein Gebäudetyp, der dem Wandel der Wissenskultur Rechnung trägt: die moderne Bibliothek. Sie vereint Geist und Hülle, Schönheit und Systematik. Hier liegt die Stärke dieser Ausstellung, die mit wunderbaren Modellen und Plänen Meisterstücke von Michelangelo über Étienne-Louis Boullée bis hin zu Dominique Perrault plastisch vor Augen führt und somit den Typus Bibliothek erklärt, einsichtig macht, wie sich etwa das Verhältnis zwischen Lesesaal und Magazin wandelt und was der enorme Wissenszuwachs für das Gebäude bedeutet, in der Bildung ausgestellt und zugänglich gemacht werden soll. Mit dem Nationalstaatsgedanken wächst im Buchspeicher eine andere Spielart kultureller Einheit. Nationalbibliotheken in London, Paris und Washington wurden zum Spiegel nationaler Produktivität, ihre Kuppellesesäle konfrontierten die Wissbegierigen mit der Expansion der Wissenssphäre, welche bald schon die Möglichkeiten der Kataloge und Lager überstieg. So sehr auch Etats und Magazine wuchsen, sie konnten nicht mehr Schritt halten mit der Produktion. Weltwissen war plötzlich nicht mehr unter einen Hut (oder eine Rotunde) zu kriegen, es war auch kaum mehr zu indizieren, wie es die fiktiven Bibliothekare von Umberto Ecos "Name der Rose" versuchten, Weltwissen hatte stets auch revolutionären Charakter.
Wer die Gesellschaft aus den Angeln heben will, muss erst die Kräfte verstehen, die sie zusammenbinden. Karl Marx war so ein Suchender in den Bücherbergen der British Library. Moderner erscheint aber heute Benjamins in der Pariser Nationalbibliothek geschaffenes "Passagenwerk". Das Ganze ist verloren wie die Bibliothek von Alexandria, was bleibt, sind Fragmente. Angst ist ein guter Baumeister. Das Wesen der Bibliothek ist wehrhaft. Wissen soll gesichtet, gesichert, vielleicht gar gerettet werden. Konrad Gessner betreibt seine 1545 erschiene Bibliographie "Bibliotheca universalis" aus der Furcht, das Wissen gehe sonst womöglich verloren und mit ihm die Kultur. Wer sich so umsieht in der Ausstellung und sich durch das gewichtige Katalogbuch arbeitet, erhält einen ähnlichen Eindruck. Hier wird ein Epitaph verfasst für eine fragil gewordene Kulturleistung, eine leckgeschlagene Arche. Wie Mehltau legt sich über die Ausstellung die Angst vor der virtuellen Welt ortloser Datenströme: Aus der örtlichen und geistigen Sammlung, dem Zwiegespräch zwischen Leser und Autor wird Zerstreuung, aus größtmöglicher Konzentration an einem Punkt räumliche Entgrenzung und geistige Diffusion. Das zeigt sich an neueren Bibliotheksbauten, die ihre Form verlieren und als spektakuläre Amöben oder kantig zersplitterte Wissensberge in den Städten stehen. Wer braucht noch Studierzimmer und Lesesaal, der über Breitbandinternet und WLAN verfügt? Nach dieser Lesart wird der überall feststellbare Neubauboom der letzten Jahrzehnte zum "letzten Aufbäumen" (Winfried Nerdinger) vor der endgültigen Digitalisierung. Eine düstere Aussicht für all jene, die ihre Sozialisierung im Lesesaal der Universitäten erfuhren, die Bücher als überzeitliche Kulturgüter schätzen und denen Lesen mehr bedeutet als schneller Informationsgewinn.
Was aber bedeutet Bibliothek heute? Wer etwa die wunderbar offene und leutselige Stadtbücherei von Amsterdam erlebt hat, ahnt, warum inzwischen auch in der Stadtteilbibliothek München-Pasing eine Espressomaschine steht. Büchereien wandeln sich zu Wohlfühlorten, auch wenn Kritiker darauf verweisen, dass sie immer noch weniger bildungsfernen Familien dienen als bürgerlichen Bildungsfreunden zur Selbstvergewisserung. Doch davon schweigt die Ausstellung. So beschleicht einen das Gefühl, dass diese gelehrte Schau vor allem der Welt analoger Wissensdarstellung nachtrauert. Bücher mögen verschwinden und später als digitale Schatten wiederauferstehen. Datenströme und digitale Medien mögen die Wissenschaftslandschaft verändern, die Institution Bibliothek mag sich wandeln. Sie wird sich weiter öffnen müssen. Die beste Sicherung ist womöglich keine aus Mauern, ahnte schon Gessner, sondern eine aus Seiten, und diese können auch digital sein. Am Ende der Ausstellung steht wieder ein Buch. 416 Seiten hat es, gebunden, ein schönes Nachschlagewerk mit klugen Gedanken, ein Wälzer für die heimische Bibliothek, sofern sie über Ordnung verfügt. Für alle anderen bedeutet das Werk womöglich nur ein fast anderthalb Kilo mächtiges Umzugserschwernis."
Pinakothek der Moderne, München: bis 16. Oktober. Das Begleitbuch (Prestel Verlag) kostet im Museum 35 Euro. www.pinakothek.de.
Footnote
Vgl.: http://www.fr-online.de/kultur/architektur/die-arche-mit-dem-leck/-/1473352/8688182/-/index.html.

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