Document (#36568)

Author
Haubner, S.
Title
"Als einfacher Benutzer ist man rechtlos" : Unter den freiwilligen Wikipedia-Mitarbeitern regt sich Unmut über die Administratoren
Source
Bergische Landeszeitung. Nr.107 vom 9.5.2011, S.19
Year
2011
Series
Magazin
Content
"Kaum etwas hat den Umgang mit dem Wissen der Welt so verändert wie Wikipedia. Die von Tausenden von freiwilligen Helfern erstellte Online-Enzyklopädie ist eine ein Jahrzehnt währende Erfolgsstory - ganz besonders in Deutschland. Mit rund 1,2 Millionen Artikeln ist die deutsche nach der englischen die zweitgrößte Wikipedia-Ausgabe. Laut der aktuellen Online Studie von ARD und ZDF haben fast 36 Millionen Deutsche schon einmal etwas im Internet nachgeschlagen. Fast drei Viertel der Internetnutzer ab 14 Jahren schauen zumindest ab und an mal bei Wikipedia vorbei. Wikipedia ist zu einem Giganten geworden, die Menge an Informationen ist unüberschaubar. Genau das wird immer mehr zu einem Problem. Nutzer, die nur eben mal kurz etwas nachschlagen wollen, sind häufig ernüchtert. In manchen Themenbereichen liest sich Wikipedia nicht mehr wie ein Volkslexikon, sondern wie eine in bestem Fachchinesisch verfasste Doktorarbeit. Ein Beispiel dafür ist der Artikel über den "Goldenen Schnitt". Dass sich dabei der größere Abschnitt einer Strecke zu dieser verhält wie der kleinere Abschnitt zum größeren, erklärt das gedruckte Meyers Taschenlexikon in zwei Sätzen. Wikipedia-Nutzer sehen sich einer Fülle von Formeln, Schaubildern und Diagrammen gegenüber. Einem Schüler, der sich über die Rolle des Goldenen Schnitts in der bildenden Kunst informieren möchte, schwirrt da bald der Kopf. Und im Abschnitt "Bildkomposition" er schließlich endgültig verunsichert. Weil der Artikel nicht hinreichend mit Belegen ausgestattet sei, würden einige Angaben möglicherweise demnächst entfernt. Eine zuverlässige Informationsquelle sieht anders aus.
"Kann es sein, dass sich hier die reinen Fachidioten tummeln?", fragt ein Nutzer. "Warum schreibt hier niemand etwas davon, worum es wirklich geht?" Auf der zu jedem Artikel gehörenden Diskussionsseite wird mühsam um jeden einzelnen Satz gerungen. Welche Informationen sind wirklich wichtig? Gibt es dafür ausreichende Belege? Warum wurde ein bestimmter Absatz gelöscht und dafür ein anderer eingefügt? Und wer bestimmt überhaupt, was wissenswert ist und was nicht? Vollends unübersichtlich wird es, wenn abweichende Meinungen unversöhnlich aufeinanderprallen. So umfasst die Diskussion um die wissenschaftliche Belegbarkeit der Homöopathie mittlerweile 1,3 Millionen Wörter. Mit 11.400 Einzelbeiträgen, so erfährt der Nutzer auf der betreffenden Seite, handle es sich um die längste Diskussion über einen Artikel in der deutschsprachigen Wikipedia. Allein für das Lesen benötige man ohne Pausen etwa 143 Stunden. Kein Wunder, dass vielen potenziellen Mitarbeitern solche Grabenkämpfe auf Dauer zu anstrengend sind. Gerade einmal drei Prozent der Nutzer haben schon einmal selbst Artikel verfasst oder fremde überarbeitet. Der Anteil weiblicher Helfer hinkt dem der männlichen seit Jahren dramatisch hinterher. Dass viele Autoren bereits nach wenigen Beiträgen wieder im Heer der inaktiven Nutzer untertauchen, ist mittlerweile sogar Gegenstand einer internen Befragung.
Nicht wenige von denen, die aus Frust nicht mehr dabei sind, machen dafür die Administratoren verantwortlich. Derzeit rund 300 "Admins" wurden von der Wikipedia-Gemeinschaft mit weiter gehenden Rechten ausgestattet, als sie der normale Nutzer hat. Um die Informationsflut einigermaßen zu kanalisieren, haben sich einige von ihnen recht rustikale Umgangsformen angewöhnt. Inhaltliche Auseinandersetzungen werden mit harten Bandagen und oft fragwürdiger Wortwahl ausgetragen. Wer die Relevanz eines von ihm verfassten Artikels nicht nachweisen kann, muss mit der Löschung des gesamten Beitrags rechnen. Wer dagegen Einspruch erhebt, wird barsch abgebügelt: Ganz Uneinsichtige müssen gar mit einer dauerhaften Sperrung rechnen: Das allgemeine Arbeitsklima und die Art und Weise, wie hier mit Leuten umgesprungen wird, ist absolut beklagenswert", sagt Dr. Klaus Graf, Historiker und Archivar an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen und seit 2004 aktiver Mitarbeiter an der Online-Enzyklopädie. Viele der Admins beherrschten die einfachsten Grundregeln im Umgang mit Menschen nicht. "Diese Leute leben bei Wikipedia ihre Allmachtsfantasien aus und glauben, sich alles herausnehmen zu können." Offenbar können sie das auch. "Als einfacher Nutzer", so Graf, "ist man vollkommen rechtlos und steht am Ende immer auf der Seite der Verlierer." Denn das Schiedsgericht, das man als letzte Instanz aufrufen kann, sei keineswegs neutral, sondern stehe fast immer geschlossen hinter den Admins, die sich wie "Oberlehrer" und "Blockwarte" gerierten.
Das strukturelle Ungleichgewicht führt letztlich auch zu einem inhaltlichen. So strotzt Wikipedia geradezu vor Detailwissen zu historischen und modernen Kriegsschiffen - inklusive seitenlang ausgebreiteter technischer Details. Kultur- und Bildungseinrichtungen landen hingegen ziemlich schnell als "irrelevant" auf der Liste der "Löschkandidaten". Nach einer siebentägigen "Löschdiskussion" verschwinden sie im digitalen Orkus - inklusive der von den Autoren investierten Arbeitsstunden. "Wir mischen uns grundsätzlich nicht in redaktionelle Vorgänge ein", kommentiert Catrin Schoneville vom Förderverein Wikimedia Deutschland die Klagen enttäuschter Mitarbeiter. Selbstgerechtigkeit und rüpelhaftes Verhalten seien zudem keine auf Wikipedia beschränkte Phänomene, sondern ein Problem bei Diskussionen mit unterschiedlichen Auffassung überall im Internet. Die überwiegende Mehrheit der Autoren arbeite einfach mit und befasse sich nicht mit den Vorwürfen und der Nörgelei, die "immer wieder von dem gleichen kleinen Kreis von Kritikern geäußert würden. Auch ein Nachwuchsproblem sieht die Wikimedia-Sprecherin nicht: "Wir haben derzeit rund 7000 aktive Autoren in der deutschsprachigen Community. Bei einem freiwilligen Projekt liegt es in der Natur der Sache, dass das Engagement, mit dem sich jeder einzelne einbringt, variiert."
Dennoch bemühe man sich, mit Förderprojekten und Workshops für mehr Motivation zu sorgen und neue Zielgruppen zu erschließen. So werde das Mentorenprogramm, in dessen Rahmen man sich von erfahrenen Autoren bei den ersten Schritten in der Wikipedia-Welt begleitet lassen kann, schon von 90 Prozent der Neueinsteiger angenommen. Stolz ist man bei Wikimedia auf das Projekt "Silberwissen", mit dem vor allem ältere Menschen angesprochen werden sollen. "Das Wissen älterer Generationen könnte Wikipedia bereichern und neue Perspektiven eröffnen", hofft Schoneville. Vielleicht wirkt sich diese Lebenserfahrung ja irgendwann einmal auch auf die in der Wikipedia-Gemeinde herrschenden Umgangsformen aus. Zu wünschen wäre es. Schließlich, und da sind sich ausnahmsweise einmal alle Beteiligten einig, gibt es zu Wikipedia mit seinen beinahe konkurrenz- weil kostenlosen Angeboten derzeit kaum echte Alternativen."
Theme
Informationsmittel
Field
Kommunikationswissenschaften
Object
Wikipedia

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