Document (#35687)
- Author
- Walter, M.
- Title
- Unzulässige Überinterpretation : Schuld und Strafe
- Source
- Frankfurter Rundschau. Nr.xxx vom 05.07.2010, S.xx
- Year
- 2010
- Content
- "Wer als Naturwissenschaftler die Willensfreiheit verneint und deswegen dem geltenden Schuldstrafrecht seine Berechtigung abspricht, überschreitet Grenzen. Mehr noch, er rührt an Grundfesten unserer sozialen Ordnung. Just das macht der Neurobiologe Gerhard Roth zusammen mit der Strafrechtlerin Grischa Merkel. Sie bleiben mit diesem Angriff nicht bei der Voraussetzung des Strafrechts, der Annahme - bzw. Verneinung - individueller Schuld stehen, sondern denken weiter und plädieren für "eine notwendige Diskussion des Straf- und Maßregelvollzugs". Um ihren Gegenentwurf, ihr kriminalpolitisches Ergebnis, vorwegzunehmen: Ihnen schwebt eine Mischung aus polizeilichem Abwehr- und Maßregelrecht vor, in dem "in einem weit größeren Umfang Behandlungsangebote notwendig" seien. Der Akzent soll auf neurobiologisch konzipierten "verhaltensändernden Maßnahmen" liegen, die die falsche Programmierung der Täterpersönlichkeit korrigieren. Effektiv seien allerdings nur "frühzeitige Hilfsangebote", wobei unklar bleibt, ob analog der Arbeiten von Michael Gottfredson und Travis Hirschi die Kindheitsjahre gemeint sind ("Kinderknast"?) oder intensive Inhaftierungen schon bei ersten Auffälligkeiten. Wie auch immer, diese gedankliche Linie ist für alle, die die Entwicklung im Vollzugsbereich und die wesentlichen Befunde der Sanktionsforschung auch nur einigermaßen überblicken, trotz ihrer Schwammigkeit und fehlenden Originalität eine Provokation ersten Ranges, die entschiedenen Widerspruch herausfordert.
Doch gehen wir der Reihe nach vor und fragen, ob all das tatsächlich aus der Hirnforschung herzuleiten ist. Der Umstand, der die bisherige Welt gleichsam aus den Angeln heben soll, ist nach Roth/Merkel die postulierte Zwangsläufigkeit unseres Verhaltens, die alternative Verhaltensweisen (den "Alternativismus") in einer bestimmten Handlungs- und Entscheidungssituation ausschließe. Danach laufen sämtliche Geschehnisse nur ab, und wir bilden uns die Freiheit des Handelns lediglich ein. Diese in ihrer Tragweite kaum überschätzbare Annahme will Roth aus der Erkenntnis und Beschreibung biologischer Abläufe im Gehirn gewinnen. Dass man aber die Willensfreiheit schwerlich mit der Analyse einzelner körperlicher Abläufe zu widerlegen vermag, scheint ihm selbst zu dämmern. Denn in seinem Werk "Fühlen, Denken, Handeln" werden zur Verneinung des freien Willens nicht etwa nur die Gene oder körperliche Prozesse herangezogen, sondern der gesamte Kanon der Human- und Sozialwissenschaften, u.a. die "frühkindlichen Erfahrungen, spätere Erfahrungen und Einflüsse aus Elternhaus, Freundeskreis, Schule und Gesellschaft." Die betreffenden Erlebnisse sollen unser "emotionales Erfahrungsgedächtnis" derart "formen", dass für die Freiheit nichts mehr übrig bleibt. Schon lange vor Roth haben viele Forscher auf den großen Einfluss der individuellen Geschichte eines Menschen auf sein späteres Verhalten hingewiesen, allen voran die Psychoanalytiker. Dennoch geht die moderne Psychologie von einer innerpersönlichen Instanz, einem Ich, aus, das den Umgang mit entsprechenden Vorerfahrungen regelt. Diese Prozesse können gestört sein, sie sind indessen in gewöhnlichen Fällen keineswegs ausgeschlossen. Wir können nicht zu passiven Opfern individualgeschichtlicher Vorfälle reduziert werden. Das Auffinden körperlicher Substrate und Mechanismen für intellektuelle Vorgänge belegt möglicherweise, dass die betreffenden intellektuellen Leistungen auf bestimmte biologische Bahnen angewiesen sind. Mit solchen notwendigen Bedingungen für Gedanken oder Entschlüsse hat man aber nicht schon alle Bedingungen gefunden, die das geistige Leben in einem Menschen ausmachen. Die Leugnung der Willensfreiheit stellt deshalb eine unzulässige Überinterpretation einzelner biologischer Hirnprozesse dar.
Das ist nicht der einzige gedankliche Fehler, der Roth/Merkel unterläuft. Obgleich ein Mensch ihrer Meinung nach in der konkreten Entscheidungssituation nichts zu entscheiden hat, sondern Erlebtes nur gleichsam mechanisch "umsetzt", soll er dennoch verantwortlich sein. Aber wofür und wie? In diesem Schwenk liegt ein eklatanter Widerspruch, auf den Winfried Hassemer zu Recht hingewiesen hat. Die Würde eines Menschen liegt nicht zuletzt in der Fähigkeit, sich für das Gute und Richtige zu entscheiden. Anderenfalls dürften keine Ehrungen und Anerkennungen - öffentlich wie privat - mehr ausgesprochen werden. Denn jedes Mal wird die Entscheidung gelobt, die einem Lebensverlauf oder einer Tat zugrunde liegt. Entgegen Roth/Merkel ist es freilich nicht zulässig, den Satz umzudrehen und zu kritisieren, dass danach Menschen ohne Entscheidungsfreiheit keine Würde hätten. Der Denkfehler besteht insoweit darin, dass ja nicht behauptet wird, die Würde folge allein und ausschließlich aus der Entscheidungsfreiheit. So haben weder Kinder in den ersten Lebensjahren noch psychisch Kranke eine "Würde zweiter Klasse". Hätten Roth und Merkel Recht, wäre jedem Kriminalrecht, auch dem auf Erziehung abhebenden Jugendrecht, der Boden entzogen. Denn die gesetzlich kodifizierten Strafnormen sollen das Unrecht herausstellen, elementare Verhaltensgebote betonen, die Normbefolgung stabilisieren und vor der Begehung von Straftaten warnen oder gar abschrecken.Dieses gesamte generalpräventive Unterfangen liefe leer, falls die Menschen gar nichts zu entscheiden hätten. Im Gegenteil: Das Kriminalrecht, das an die Normbeachtung appelliert, wäre eine große gesellschaftliche Lüge, die die wissenschaftliche Erkenntnis vernebelte, alle Straftäter vom Wirtschaftskriminellen bis hin zum Vergewaltiger zu Opfern einer unwahren Freiheitsideologie machte. Roth und Merkel ist zuzugeben, dass die Möglichkeit alternativen Entscheidens, die sie abstreiten, schwer nachweisbar ist. Hat sich jemand für eine Handlung, beispielsweise einen Ladendiebstahl, entschieden, bleibt die Frage, ob er nicht auch eine andere Entscheidung hätte treffen können, hypothetisch und auf eine nicht mehr einholbare Vergangenheit gerichtet.
Doch haben die Sozialwissenschaften durchaus theoretische Ansätze entwickelt, die die Annahme einer - immer nur relativen - Willensfreiheit mehr als nahe legen. Dazu gehören etwa die nicht geringen Studien, die von einem Kosten-Nutzen-Modell ausgehen, bei dem individuell kalkulierte Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen werden, einschließlich ideeller Momente wie beispielsweise Anerkennung durch andere. Freilich ist es prinzipiell vorstellbar, dass sämtliche Einflussfaktoren auf den Plan gerufen werden und das Gehirn dann lediglich eine Rechenoperation durchführt. Aber hat es auch einen vorgefertigten Maßstab, mit dem die jeweiligen Einflussstärken bestimmt werden? Entscheidend scheint mir die soziale Wirklichkeit in dem Sinne zu sein, dass wir ohne die Vorstellung der Willensfreiheit schlicht nicht leben können. Tagtäglich behandeln wir uns gegenseitig als vernunftbegabte Wesen, die ansprechbar und in ihrem Verhalten beeinflussbar sind, nicht nur durch das Hervorrufen bestimmter Reflexe. Von der staatlichen Verfassung bis zur persönlichen Lebensgestaltung bauen wir auf die Vermittlung von Sachgesichtspunkten und Argumenten.
Das Strafrecht ist da keine Ausnahme und erst recht kein intellektuelles Spiel. Es hat vielmehr die Aufgabe, elementare Rechtsgüter wie Leben, Freiheit und Eigentum zu schützen. Die Methoden sind ebenfalls die der mitmenschlichen Kommunikation. Die Gesellschaft appelliert primär an die Einsicht. Dieser Appell setzt jedoch, soll er sinnvoll sein, die Fähigkeit zur Steuerung voraus. Vordergründig betrachtet sind die Konsequenzen, die Roth und Merkel aus ihrer Grundannahme zum (fehlenden) freien Willen ziehen, gar nicht so schlimm: Behandlungsangebote müssen her! Wer will dagegen etwas einwenden? Doch übersehen sie dabei das Entscheidende, nämlich die Erfahrungen, die bislang im Straf- und Maßregelvollzug gesammelt wurden und in Deutschland gewöhnlich mit dem Begriff Sozialtherapie umschrieben werden. Das A und O des Ganzen ist die Einübung des Umgangs mit Freiheit(en - in Gestalt von Zeit, Geld usw.), die Ausbildung von Selbstbeherrschung, die Übernahme von Verantwortung für andere. Die Basis all dessen bildet die Vorstellung eines für sich selbstverantwortlich handelnden Menschen, der vor allem die Sphäre und Rechte anderer zu respektieren weiß. Behandlung nach diesem Verständnis muss angeboten und überzeugend vermittelt werden. Demgegenüber stellen sich die Folgerungen, die aus der Determinismus-Perspektive Roths zu ziehen wären, als Aliud dar. Sie kontrastieren im Wesentlichen, weil danach die Bemühungen nur darum kreisen könnten, den Gefangenen so zu konditionieren, dass er "richtig läuft". Eine solche Praxis würde dem Menschenbild des Grundgesetzes und auch internationalen menschenrechtlichen Vorgaben, an denen Merkel so viel liegt, klar widersprechen. Vielleicht meinen Roth/Merkel derartige Täterbehandlungen nicht oder nicht ausschließlich. Nur: Wenn dem nicht so ist, geraten sie in Widerspruch zu ihren eigenen Prämissen. Im Widerspruch zu den eigenen Aussagen stehen auch die Hoffnungen, die die Autoren mit ihrem Text verbinden. Denn die Freiheit verneinenden Ausführungen sind ja ersichtlich in der Absicht verfasst, die Leser in der Sache zu überzeugen und zu Folgeentscheidungen zu veranlassen, die aus besserer Einsicht und in freier Abwägung der Gesichtspunkte und Argumente getroffen werden. Auch wenn ich diesem Wunsch nicht nachkommen kann, mag ich mich des Schmunzelns darüber nicht zu erwehren, dass Roth/Merkel wenigstens in dieser Beziehung einen "Alternativismus" für möglich halten." - Footnote
- Erwiderung auf: Roth, G., G. Merkel: Haltet den Richter!: Schuld und Strafe. In: Frankfurter Rundschau. Nr.xxx vom 26.06.2010, S.xx. Bezugnahme auf: Hassemer, W.: Haltet den geborenen Dieb! In:FAZ vom 15.06.2010. Vgl. Erwiderung: Janich, P.: Stillschweigende Hirngespinste: Die FR-Debatte zur Willensfreiheit. In: Frankfurter Rundschau. Nr.158 vom 12.07.2010, S.20-21. Vgl. Fortsetzung: Lüderssen, K.: Wer determiniert die Hirnforscher?: Was ist Willensfreiheit (4). [Interview]. In: Frankfurter Rundschau. Nr.164 vom 19.07.2010, S.20-21. Pauen, M.: Das Schuldprinzip antasten, ohne es abzuschaffen: Was ist Willensfreiheit (5) oder: Wer ist verantwortlich für die Abschaffung von Verantwortung?. In: Frankfurter Rundschau. Nr.170 vom 26.07.2010, S.22-23. Vgl.: http://www.fr-online.de/top_news/?em_cnt=2814820&em_loc=2091.
- Field
- Kognitionswissenschaft
Rechtswissenschaft
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