Document (#29662)

Author

Pfeiffer, K.L.

Title

Evidenzerfahrung des Grundes : Jenseits der vermeintlichen Entzauberung der Welt: Auch in der modernen Wissenschaft ist die maystische Erfahrung als Denkmodalität bedeutsam

Source

Frankfurter Rundschau. Nr.272 vom 22.11.2005, S.26

Year

2005

Series

Forum Humanwissenschaften

Abstract

Auch wenn davon kaum noch sichtbare Spuren in der Struktur der Theorie vorhanden sind, ist nach K. Ludwig Pfeiffers Einschätzung die "Macht der inneren Bilder" selbst für die scheinbar nüchterne naturwissenschaftliche Erkenntnis längst nicht ausgelotet.

Content

"Man hat sich daran gewohnt, wichtige Ergebnisse der neuzeitlichen Naturwissenschaften als periodische Entzauberung menschlichen Selbstverständnisses hinzunehmen. Es ist nicht allzu lange her, dass der Philosoph Odo Marquard den Geisteswissenschaften deswegen das Abfedern, die intellektuell anspruchsvolle, aber humane Bewältigung des wissenschaftlich erzeugten. Vertrautheits- und Vertrauensverlustes angetragen hat. Marquards Strategie hat allerdings ihre Tücken. Auch wenn sie den Geisteswissenschaften nicht zwangsläufig Traditionsbewahrung ansinnt, mutet sie ihnen den Rückgriff auf einen Kanon von Bildungsgütern zu. Wie, weit dieser schon abgewirtschaftet hat, zeigt sich nirgends besser als in seiner unentwegten Beschwörung: Stattdessen empfiehlt es sich, ein Denken in Modellen zu trainieren. Ohne die: von Jürgen Habermas vor etwa 30 Jahren säuberlich getrennten Erkenntnisinteressen (Geschichtsverstehen, gesellschaftliche Emanzipation, Naturbeherrschung) zu vergessen, wird man heute Denkmodelle eher an den Spannungen zwischen personalen und wissenschaftlichen Erkenntnismodalitäten erproben. Dass zu solchen Modalitäten auch die oft als höchst verdächtig angesehene mystische Erfahrung zählt, machen heute gerade jene Wissenschaften wie die Hirnforschung mit Perspektiven plausibel, auf die sie mit dem vermeintlichen Gegenteil, dem rationalen, empirisch kontrollierten Experiment gestoßen sind. Die Denkbewegung der Neuzeit ist damit kaum noch als ein geradliniger Weg vom Vorwissenschaftlich-Irrationalen zur theoretisch interessierten, empirisch-experimentell kontrollierten Wissenschaft, als Gegensatz zwischen theoretisch-experimenteller Objektdistanzierung und einem subjektiven mystischen Erfahrungsmaximum festzuschreiben. Schon für Max Weber war mystisches Leben ja zu einem "hinterweltlichen Reich" und zur kontemplativen Weltflucht verkommen, deren Anziehungskraft, wiewohl immer wieder aufblitzend, weder mit der Attraktivität früherer Magie noch mit der Dynamik ihrer Entzauberung durch das rational-empirische Erkennen konkurrieren konnte. Wie aber lässt sich Mystik jenseits der Entzauberung als eine zentrale Erkenntnismodalität (wieder) ins Spiel bringen? Die Aussagen der älteren Mystiker über die Natur des Menschen, über Gott und die Welt und vor allem eine diesen Gegenständen unterstellte Einheit und große, meist auch ästhetisch schöne Ordnung, gründen in Erfahrungen. Wir kennen aber von der Mystik nur ihre religiös, naturphilosophisch oder ähnlich codierte Sprache: Diese signalisiert für uns eine kaum noch nachvollziehbare Emphase des Erkenntnisanspruchs und extreme Reichweite des Erkenntnisinhalts.
Rätsel der Gegenstände Anders sähe es freilich aus, wenn die heutige Wissenschaften selbst Evidenzen dafür beibrächten, dass die Intensität von Erkenntnis- als inneren Erfahrungsprozessen auch anders, eben wissenschaftlich beschrieben werden kann; dass sie sich in zentralen Erkenntnisinhalten moderner Wissenschaften auch dann zur Geltung gebracht haben und diesen vorausliegen, wenn es sich dabei nicht um die Einheit von Gott, Subjekt und Welt im großen Stil, sondern etwa um die Struktur einer Zelle, ein genetisches Programm oder eine physikalische Vorstellung vom subatomaren Raum handelt. Es könnte sogar sein, dass sich mystische Erfahrungsstile von der Religion in die Wissenschaft verschoben haben, weil das Rätsel der den Wissenschaften immer wieder neu ins Visier geratenden Gegenstände jene Entdeckerfreuden verspricht, die sich in der Religion aufgrund der langen Geschichte und vieler bekannter Geschichten nicht mehr so recht einstellen wollen. Die Wissenschaftsgeschichte hat inzwischen eine Reihe von Fällen dingfest gemacht, in welchen die vermeintliche Entzauberung der Welt und des Menschen durch die Naturwissenschaft von ihr selbst unterlaufen wurde. Kepler etwa gilt weithin als der erste wirkliche Held der modernen Naturwissenschaft. Aber die neue Struktur des Universums spiegelt die christliche Trinität - Kepler ging von der An-nahme aus, dass sich die Einheit der Dreifaltigkeit in der Ordnungder Hauptbestandteile des Universums (Sonne, Fixsterne, Äther) auffinden lassen müsse. Gleichzeitig skizziert er eine Erkenntnisweise, die man nicht anders als mystisch nennen kann: Der Geist enthalte in sich die grundlegendem und wesentlichen Formender Realität. Bei modernen Physikern sind die theologischen Korrespondenzen zumindest aus der sichtbaren Struktur der Theorieweitgehend getilgt. Reichlich kühn wäre gleichwohl die Annahme, die Naturwissenschaften hätten solche Denkmodalitäten aus ihrem Repertoire gänzlich gestrichen. Heisenberg beschreibt "das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen". Und Karl Clausberg sprach schon 1980 von einer "neuen Mystik« der Selbstorganisation und der "Theologie der schwarzen Löcher".
Freilich sieht man sich bei solchen Kopplungen von Mystik und Moderne mit Tücken eigener Art konfrontiert. Man kann sicher von Mystik als Evidenzerfahrung des Grundes auch dann sprechen, wenn dieser Grund nicht mehr durch Gott, Kosmos oder Natur gestiftet wird, sondern in der ganzheitlich-dynamischen Struktur ungreifbarer Einheiten (Atome, Gene usw.) erschaut wird. Aber viele Wissenschaftler werden darin nicht mehr als einen für neue Erkenntnisse heuristisch oft nötigen intuitiv-imaginativen oder visionären Sprung erblicken und weiterhin auf der strikten Trennung der erfahrenden Entdeckung von ihrer rationalen oder empirischen Rechtfertigung beharren. Andererseits: Es lässt sich nicht alles über den Kamm der Skepsis gegenüber ganzheitlicher Schau oder offensichtlicher Bewusstseinsmythen scheren. Man kann an Bertrand Russell erinnern. Als Mathematiker und analytischer Philosoph mystischer Umtriebe unverdächtig, kam er von der Attraktivität einer von ihm vor 90 Jahren so genannten "logischen Mystik" nicht los. Russel verstand darunter die von Hegel etwa auf eine ärgerliche Spitze getriebene, aber unerhört attraktive Kopplung von Bewusstseinsoperationen und Wirklichkeitsstrukturen. Die größten Philosophen hätten immer die doppelte Notwendigkeit von Wissenschaft und Mystik verspürt. Bei ihm selbst, Russell, klinge "the mystic mood" zwar schon ab, der Wunsch aber, die mystische Einsicht zu bewahren oder zumindest zu beweisen, dass es sich um eine gültige Einsicht handele, dieser Wünsch bleibe. Und er wirkt unvermeidlich in die Erkenntnisprozesse hinein. Keine affektiv neutralen Objekte Von dieser einschneidenden Veränderung in der Sicht von Erkenntnismodalitäten ist auf der öffentlichkeitszugewandten Seite gerade jener Wissenschaften erstaunlich wenig zu bemerken, die für die Veränderung hauptsächlich verantwortlich zeichnen. In der gegenwärtigen (Neuro-)Biologie haben nämlich die ethischen Fragen der Gentechnologie und die Debatte um die Willensfreiheit die Szene weitgehend besetzt. Freilich ist dabei der Eindruck einer Mischung aus Überforderung und Diskussionsstau kaum noch abzuwehren. Mit Idealkonstruktionen des Individuums, so schrieb etwa schon Adorno, könne man das Problem der Willensfreiheit nicht lösen, die Gesamtheit der Bedingungen, von denen Willensakte (oder Motivation usw.) abhängen, sei andererseits nie hinreichend bekannt und laufe daher selbst auf eine bloße Idee hinaus. Was freilich eine sich gegen die 'Übergriffe' der Neurowissenschaften zu Recht wehrende Psychologie ihrerseits über Territori-alverteidigung und Grundsatzerklärungen hinaus (vgl. Gehirn & Geist, Nr. 7-8,2005) fürderhin zu bieten hat, bleibt abzuwarten.
Sehr viel vielversprechender als die strukturell mehr oder weniger in Ehren ergrauten aktuellen Debatten erscheint dagegen die produktive Diversifikation von Erkenntnismodalitäten, wie sie, wenig beachtet; der Hirnforscher Wolf Singer neben seinem bekannten Engagement in der Willensfreiheit-Debatte wiederholt angemahnt hat. Es werde, so Singer, "nicht zu vermeiden sein, die Grenzen zu jenen Erfahrungsbereichen zu verschieben, die nur metaphysischen Deutungen zugänglich sind". Erkenntnis hat es auch mit meditativen und ähnlichen Verfahren zu tun, mit welchen man "Verschmelzungsprozesse" einleitet, indem man "in tiefere innere Wirklichkeit" vordringt. Die Brisanz der Neurobiologie beginnt bei der These von Antonio Damasio, wonach es praktisch keine affektiv neutralen Erkenntnisobjekte gibt. Im Rückgriff auf Spinoza hat Damasio Stufen einer in affektiven Resonanzen schwingenden Erkenntnis skizziert, deren Vollendung als Spiritualität zu denken (und zu fühlen) ist. Wenn Wirklichkeit mit Alfred North Whitehead als die je vom Subjekt körperlich-geistig zu ergreifende kreative Dynamik des Neuen gelten kann, dann muss die Erkenntnistheorie die gleichzeitige Emergenz von Gegenständen und Erkenntnis ernst nehmen. Schon der früh verstorbene Francisco Varela hatte eindringlich suggeriert, dass ein "neurophänenologisch" verstandenes Wissenschaftssubjekt sich strenger, an buddhistische Formen der Mystik gemahnender Selbstbeobachtungstechniken befleißigen kann, um die Koevolution von Beobachter und Objekt zu kontrollieren. Der Evolutionsbiologe Brian Goodwin die Selektionsvorstellungen des Darwinismus mit - eher an Goethe orientierten und ganzheitlich zu erfassenden - Gestaltqualitäten ausgehebelt. Der Organismus ist für ihn ein erregbares Medium, das weniger vom genetischen Programm und Selektionsvorteilen als von Dynamiken der Musterbildung beherrscht Das aber erfordert ein intensiviertes Wahmehmungsverhalten auch in der Wissenschaft, die "Macht der inneren Bilder" (so der Neurobiologe Gerald Huther) ist für die wissenschaftliche Erkenntnis längst nicht ausgelotet. Die historischen Wissenschaften, die Psychologie wie auch die Politik mussten sich bisher vornehmlich mit deren aggressiven Varianten und Auswirkungen bis hin zu den gerade hierzulande sattsam bekannten katastrophalen Formen "schlechter Mystik" (Klaus Vondung) herumschlagen. Es kann nur besser werden."

Field

Kognitionswissenschaft

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3. Umstätter, W.: Szientometrische Verfahren (2004) 0.12

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4. Searle, J.R.: Geist : eine Einführung (2006) 0.11

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5. Schleim, S.: Fake Science? : Die Sache mit den Raubverlagen (2018) 0.10

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